Ein
Westler in Moldawien
14.
August 2005
Wo
liegt das eigentlich? Sind "territorille
Behorden" gefährlich? Und ist
Transnistrien ein Hochgeschwindigkeitszug?
Herbert Feuerstein auf Expedition in
Europas unbekanntestes Land
Von
Herbert Feuerstein
Es war das erste Mal in meinem Leben, daß
ich von einer Schönheitskönigin
am Flughafen abgeholt wurde. Sie hieß
Irina, studierte Betriebswirtschaft,
sprach gut Englisch und wurde dritte beim
Schönheitswettbewerb ihrer Uni. Das
Reisebüro hatte sie geschickt, samt
Fahrer, im Flughafen-Transfer (15 Euro)
inbegriffen.
Das war meine zweite Lektion in Moldawien:
"Miss Wirtschaft" muß
nicht immer was Negatives sein. Die erste
hatte ich noch außerhalb des Landes,
als ich die Reise fast absagen mußte,
weil mein Paß mit dem Visum vom
Frankfurter Generalkonsulat nach zwölf
Tagen immer noch nicht zurückgekommen
war, trotz angekündigter
Bearbeitungszeit von "einer Woche"
..., aber das kenne ich auch vom Änderungsschneider.
In letzter Minute klappte es dann doch
noch, dank einer ebenso spannenden wie
aufwendigen Kurierkette - die eigentlich völlig
überflüssig war. Denn in dem
kleinen Flugzeug aus Wien, das Westeuropa
einmal pro Tag mit Moldawien verknüpft,
erfuhr ich, daß man das Visum auch
bei der Ankunft erhalten kann.
Der deutsche Text im Antragsformular
klingt freilich recht abenteuerlich, vor
allem der letzte Satz, der Sie darauf
hinweist, "... daß ich
vorffichtet bin mich im Laufe von 3
Arbeitstagen vom Zeitfeekht des
Grenzeiberganges bei den territorillen
Behorden der Abteeleing feer
Iformationstehnologien anzumelden".
Wenn Sie den Mut haben, das zu
unterschreiben, und Sie außerdem über
ein Paßbild und fünfzig Dollar
verfügen, verläuft die
Einreiseprozedur schnell und
unkompliziert. Und wenn Sie ein Hotel
gebucht haben, brauchen Sie auch keine
Angst vor "territorillen Behorden"
zu haben, es hat nichts mit Terrorismus zu
tun und wird von der Rezeption erledigt.
Moldawien, eingeklemmt zwischen Rumänien
und der Ukraine, ist etwa so groß
wie Belgien und so bekannt wie der Mond.
Nicht mal der Name ist gesichert: Nach der
Schreibweise unseres Außenamtes heißt
das Land "Republik Moldau", aber
weil dies nur zu Verwechselungen mit
Smetanas Lieblingsfluß in Tschechien
führt, hat sich, abgeleitet vom rumänischen
Moldava, "Moldawien" eingebürgert,
was aber auch keine Klarheit schafft, weil
eine Nachbarprovinz in Rumänien
genauso heißt.
Gagarins Geheimnis
Wenn Sie sich in der Buchhandlung nach
diesem Land erkundigen, erhalten Sie erst
mal die Reiseführer-Parodie "Molwanien",
ein Land, das gar nicht existiert, und
danach ein ratloses Lächeln. Denn es
gibt keinen deutschen Reiseführer,
nur der englische Rumänien-Guide von
Lonely Planet enthält ein paar
Moldawien-Seiten im Anhang.
Da kommt natürlich Freude auf, wenn
einem gleich an der Flugzeugtreppe eine
bunte Broschüre überreicht wird.
Aber die Freude ist kurz: Das
Touristen-Magazin ist auf russisch. Die zwölf
Minuten, in denen Eugen, mein Fahrer für
die nächsten drei Tage, vom Flugplatz
ins Zentrum rast, reichen aus, um von
Irina das Wichtigste zu erfahren.
Die Hauptstadt heißt Chisinau ("Kischinau"
ausgesprochen), wo 700 000 der insgesamt
4,5 Millionen Moldawier leben;
Umgangssprache ist Russisch, Amtssprache
Rumänisch, das aber hier nicht Rumänisch
heißt, sondern "Moldawisch"
- erinnert mich an meine Schulzeit in Österreich
in den 50er Jahren, als in den Zeugnissen
nicht "Deutsch" stehen durfte,
sondern "Unterrichtssprache". Außerdem
erfahre ich, daß Irina für den
Touristikjob 100 Dollar im Monat kriegt,
plus Kommission, letztere aber nur alle
drei Monate, sowie ferner, daß ihre
Eltern eine unglückliche Ehe führen
und nur wegen der Kinder zusammengeblieben
sind, weshalb sie selber beschlossen hat,
Single zu bleiben. Und schon fühlte
ich mich wie zu Hause. Der Schlüssel
zum Verständnis des Landes liegt in
seiner jüngsten Vergangenheit. Zu
Zeiten der Sowjetunion war Moldawien wegen
seines milden Klimas zur Agrarprovinz
verdonnert: Obst, Gemüse und vor
allem Wein. Nur eine knappe Autostunde nördlich
von Chisinau kann man die legendären
Kellergewölbe von Cricova besuchen,
angeblich die größten der Welt,
mit über hundert Kilometern
unterirdischer Weinstraßen, in denen
30 Millionen Liter gelagert sind, samt
verlockenden Probierstuben an den Zugängen.
Kosmonaut Juri Gagarin soll da unten mal
zwei volle Tage zugebracht haben,
wahrscheinlich beim Versuch, auch auf
Erden die Schwerelosigkeit des Weltraums
zu testen.
Nach 1990, als das russische Weltreich
zerfiel, war Moldawien ohne Vorbereitung
plötzlich auf sich allein gestellt.
In den folgenden zehn Jahren schrumpfte
die Wirtschaftskraft um 65 Prozent, das
bitterarme Land wurde noch ärmer und
liegt heute nicht nur weit hinter allen
anderen europäischen Ländern,
sondern scheint sogar innerhalb der GUS
erst an vorletzter Stelle auf.
Entsprechend trübe sieht es mit dem
Tourismus aus dem Westen aus, obwohl in
den letzten vier Jahren ein wahrer
Quantensprung erfolgte, zumindest was die
Möglichkeiten betrifft. Zwar sollte
man sich in staatliche Betonburgen wie das
"Hotel National" nur verirren,
wenn man länger in U-Haft war und
Sehnsucht hat, dahin zurückzukehren,
doch gibt es inzwischen zahlreiche kleine,
moderne, blitzsaubere Hotels und noch mehr
freundliche Restaurants.
Trauen Sie aber keiner Speisekarte, wenn
Sie darauf deutsche Wörter finden,
denn die stammen höchstwahrscheinlich
vom gleichen Übersetzer, der auch für
den Visumantrag verantwortlich ist. "Essen
mus sein wenn bekommen ist guetlich",
stand als Motto auf der Karte des Lokals,
das mir Irina empfohlen hatte. Na ja, da
hat man wenigstens was, worüber man
bis zum Nachtisch grübeln kann, wenn
man allein speist.
Preziöse Babuschkas
Für den, der nicht gern allein
speist: Die Moldawier sind gesellige,
gastfreundliche Leute, laden gern ein und
lehnen niemals eine Einladung ab. Wenn man
gar, wie ich, zufällig am Tag des
Schlagercontests der Eurovision in
Chisinau ankommt, gerät man in ein
Nachtleben von der Überschwenglichkeit
eines Oktoberfests: Das Zentrum hatte sich
in einen einzigen Biergarten verwandelt,
Zehntausende lachten und lärmten, an
vielen Ecken standen Großbildschirme.
Und als Moldawien dann gar den siebten
Platz schaffte, gab es ein spontanes
Feuerwerk. Und weil man da zwangsläufig
mit den Leuten ins Gespräch kommt und
als reicher Westler natürlich auch
ein paar Runden schmeißen muß,
kann es durchaus sein, daß die
beiden moldawischen Punkte für den
peinlichen deutschen Beitrag auf mein
Konto gehen. Dafür bitte ich hiermit
nachträglich vielmals um
Entschuldigung.
Zur Strafe konnte ich auf dem Rückweg
mein Hotel nicht mehr finden, was aber
nicht an den Lokalrunden lag, sondern an
der Straßenbeleuchtung - oder
vielmehr an ihrem fast vollständigen
Fehlen. Mehrmals lief ich am Hotel vorbei,
und als ich endlich an einem Hauseingang
einen Mann stehen sah und ihn fragte, wo
das "Mesogios" hingekommen sei,
meinte er, das sei hier und ob er mir die
Treppen hinaufhelfen sollte.
Der Kerl hat doch tatsächlich meine
Nachtblindheit, gepaart mit meinem
grandiosen Orientierungssinn, für die
Folge einer moldawischen Weinprobe
gehalten. War er wahrscheinlich von den
russischen Touristen so gewöhnt.
Das Erdbeben von 1940 und die Bomben des
Zweiten Weltkriegs haben das historische
Chisinau komplett zerstört. An das
Schtetl der Juden, die einst ein Drittel
der Einwohnerschaft bildeten, erinnern nur
noch ein paar Straßennamen und eine
verwahrloste Gedenkstätte, und nach
einer dreistündigen Stadtrundfahrt
hat man das Wesentliche gesehen: eine
Kunststadt nach Schachbrettmuster mit ein
paar Betonklötzen im stalinistischen
Prunkstil - und trotzdem eine Stadt mit
Anmut, denn so gut wie keine Straße
ist ohne Baumbestand, meist mächtige
Baumriesen, dazwischen viele kleine Parks
und rundherum ein Waldgürtel. Keine
Großstadt Europas ist so üppig
grün durchsetzt, sogar die
Plattenbau-Gebirge der Vorstädte
wirken dadurch erträglich.
Falls jemand einwendet, daß Bäume
allein aus einer sozialistischen Betonwüste
keinen Lustgarten machen können: Na
schön, es sind nicht nur die Bäume.
Es sind auch die Frauen. Jeder Straßenblock
enthält mindestens einen
Friseurladen, und hochhackige Schuhe
scheinen amtliche Vorschrift zu sein.
Und weil die Gehwege meist löchrig
sind, gehen die Frauen nicht, sondern
stolzieren und tänzeln. Jeder
Spaziergang wird so zu einer privaten
Modenschau, denn wie man das von Bukarest
bis Odessa gewohnt ist, verläßt
auch in Chisinau keine Frau das Haus, ohne
sich nach dem Stand der Kunst "aufzubrezeln"
- was übrigens nichts mit dem
bayerischen Biergebäck zu tun hat,
sondern von "preziös" kommt
(nur damit es nicht wieder heißt,
ich sei frauenfeindlich).
Unübersehbar und nicht minder
aufgebrezelt auch die nagelneuen Porsches
und Mercedes-Luxuskarossen, die vor den
zahlreichen Spielkasinos quer auf den Bürgersteigen
stehen, weil man fürs Geldwaschen den
Fußweg möglichst kurzhalten
will, man spart ja schließlich damit
auch an der Zahl der Leibwächter.
Valeriu, meinem sonst so gesprächigen
Fremdenführer, konnte ich bei solchen
Begegnungen immer nur Seufzer entlocken,
keine Auskünfte.
Seine Seufzer sollten sich am nächsten
Tag noch erheblich verstärken, denn für
diesen hatte ich den eigentlichen Grund
meiner Reise vorgesehen: einen Ausflug
nach Transnistrien, in eine Ecke des real
existierenden Sozialismus, der aber,
politisch gesehen, real gar nicht
existiert. Das bedarf einer Erklärung.
Als Moldawien 1990 nach Auflösung des
Sowjetimperiums in die demokratische Unabhängigkeit
wechseln wollte, waren einige Genossen in
Tiraspol, der zweitgrößten
Stadt des Landes, überhaupt nicht
einverstanden. Es kam zum Bürgerkrieg,
der zweitausend Tote forderte und 1992 mit
einem Waffenstillstand und der Ausrufung
der unabhängigen "Dnjestr-Republik"
endete, heute allgemein "Transnistrien"
genannt. Ein Landstrich mit 700 000
Einwohnern, nicht sehr viel größer
als Luxemburg, der von keinem Staat der
Welt anerkannt wird, mit schwerbewachter
Grenze und einer kleinen, internationalen
Friedenstruppe zwischen den Fronten.
Im Visier des Sheriffs
Da kamen wir also mitten in Moldawien an
einen Schlagbaum, wurden beäugt und
befragt, fuhren durch ein Niemandsland an
gelangweilten, lässig durchwinkenden
Friedensstiftern vorbei und standen dann
vor dem nächsten Grenzbaum, wo erst
Eugen, der Fahrer, zum Verhör aus dem
Wagen geholt und anschließend
Valeriu eingeschüchtert wurde, weil
sein Paßfoto einen Vollbart zeigte,
sein Gesicht aber nicht.
Wilde Geschichten gibt es über diese
Ungrenze, oft werde ein Visum verlangt,
obwohl niemand eins ausstellt, manchmal
ein Meldezettel, den keiner kennt, doch für
Ausländer gibt's immer einen Ausweg:
zehn Dollar in bar. Gleich hinter der
Grenze liegt Bender mit der wohl größten
Sehenswürdigkeit des Landes: die
mittelalterliche Festung, einst gebaut als
Bollwerk gegen die Türken, aber
trotzdem von Sultan Süleiman Anfang
des 16. Jahrhunderts erobert, und danach
dreihundert Jahre in türkischem
Besitz. Aber man kann sie gerade mal eine
Sekunde lang erspähen, aus weiter
Ferne auf der Fahrt über eine Brücke.
Denn die Festung gehört heute dem
Militär, Zufahrt und Fotografieren
strengstens verboten.
Der Markt von Bender ist zwar so sauber,
daß man vom Boden essen könnte,
aber man befindet sich in einer anderen
Welt: Statt dem Lebenshunger und der
Jugendlichkeit Chisinaus hier die graue
Tristesse. Alte Frauen in Kittelröcken
schlurfen mit großen Einkaufstaschen
durch die Straßen, kaum ein Laden
hat Schaufenster, und die Verkäufer
gucken erschrocken bis böse, wenn man
in den Verdacht gerät, etwas kaufen
zu wollen - was übrigens gar nicht so
einfach ist, denn hier gibt es eine
eigene, im Ausland absolut wertlose Währung:
den transnistrischen Rubel.
Für den Gegenwert von fünf Cent
lasse ich mich auf dem Marktplatz wiegen
und verstehe endlich, warum die älteren
Männer Osteuropas zur Korpulenz
neigen: Hier bin ich tatsächlich fünf
Kilo schwerer als zu Hause auf meiner
Badezimmerwaage.
Fünfzig Kilometer weiter östlich
dann die "Hauptstadt" Tiraspol:
gewaltiger Palast der Republik mit
Panzer-Denkmal, alles überragende
Lenin-Statue, wuchtiger Präsidentenpalast
und ein bedrohlicher Riesensoldat aus
Bronze.
Sollten Sie das nicht auf Anhieb finden,
hier meine Wegbeschreibung: biegen Sie von
der Uliza Marxa in die Uliza Lenina und
dann noch mal in die Uliza Liebknechta.
Das kostet Sie zwar einen Strafzettel von
umgerechnet 1,80 Euro, weil Linksabbiegen
verboten ist, läßt sich aber
nicht vermeiden, weil man das immer erst
von den Polizisten erfährt, die
hinter einer beliebigen Ecke lauern und
das einfach so behaupten.
Steinzeitkommunismus im Privatbesitz der
Familie Smirnow: Vater Präsident,
Sohn Zollchef und alle zusammen im Besitz
des "Sheriff"-Konzerns, des
Monopolisten für Waffenhandel von
Moskaus Gnaden.
Muß sich wohl lohnen, denn am
Stadtrand haben sie sich ein Denkmal
gesetzt: das gewaltige, supermoderne
Sheriff-Fußball-Stadion der
allerfeinsten Art, wie es sich eine
deutsche Stadt heute niemals mehr leisten
könnte.
Ein reiner Mafia-Staat sei Transnistrien,
munkelt man, Zufluchtsstätte für
Geldwäscher, Drogenbarone und
Menschenhändler ... aber zuviel
brauche ich gar nicht zu wissen, denn ich
will ja heil wieder raus. Als wir am Abend
zurück über die "Grenze"
ins richtige Moldawien fuhren, seufzte
Valeriu ganz besonders laut, diesmal aber
aus Erleichterung. "Ich hatte echt
Angst, die würden mich ein paar
Wochen behalten, bis mein Bart wieder so
lang ist wie auf dem Foto", murmelte
er. ©
Die Welt am Sonntag, 14.8.2005 - Alle
Rechte vorbehalten - |